Verrückte Fans, politische Statements und ein ziemlich teurer Pfosten: Hier sind 10 Fussball Kultvereine, die Sie unbedingt kennen sollten.
Es gibt Vereine, die sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben, ohne sonderlich erfolgreich Fußball zu spielen. Vereine, die nicht wegen Titeln und Toren verehrt werden, sondern wegen außergewöhnlicher Fans oder einer besonderen Geschichte. Für Klubs wie diese gibt es einen Begriff: Kultvereine.
Während dieses Wort an vielen Stellen inflationär benutzt wird, finden Sie in diesem Text zehn Vereine, die tatsächlich Kultstatus genießen: Sei es wegen notorischer Erfolglosigkeit, wegen politischer Statements, wegen eines Kabinenplauschs mit Mick Jagger – oder wegen eines außerordentlich teuren Torpfostens.
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1) Fußball Kultvereine – Corinthians Casuals FC
Sie haben noch nie vom Corinthians-Casuals Football Club gehört?
Damit sind Sie nicht alleine. Selbst in der eigenen Nachbarschaft kennt kaum einer den Londoner Vorstadtverein, der in der siebten englischen Liga spielt. „Gehen Sie mal in den Supermarkt hundert Meter weiter und fragen die Leute nach uns“, erzählte Klubpräsident Brian Vandervilt gegenüber 11 Freunde. „Schon dort wird uns keiner mehr kennen. Niemand weiß, dass hier ein Fußballklub namens Corinthian-Casuals spielt.“
Im Netz zeichnet sich indes ein anderes Bild: Auf Facebook hat Corinthian-Casuals 140.000 Fans. Die Anhänger stammen allerdings nicht aus England. Sie kommen fast ausschließlich aus Brasilien. Dort hat der Klub Millionen Fans, die kräftig liken, Trikots kaufen und sogar ins King George’s Field pilgern, die marode Heimstätte der Corinthian-Casuals. Warum? Weil einer der größten Vereine Brasiliens ohne sie nie entstanden wäre: der Sport Club Corinthians Paulista aus Sao Paolo.
Um diese sonderbare Verbindung zu verstehen, muss man über 100 Jahre in die Vergangenheit blicken: 1882 gründete Lane Jackson, ein Angestellter der Football Association, den Corinthian Football Club als eine Art Talentschmiede für die damals schwächelnde englische Nationalmannschaft in London. Der Erfolg war bahnbrechend: Zeitweise stellte Corinthian den gesamten Kader der Three Lions, die fortan dominierten. Der Verein war eine Sensation, er hätte heute womöglich in einer Reihe mit Real Madrid, Manchester United oder dem FC Bayern stehen können. Doch in Regel 7 der Vereinssatzung legte der Gründer fest: „Der Klub darf nicht an professionellen Wettbewerben teilnehmen oder Preisgelder und Titel gewinnen.“
So lehnte es Corinthians ab, sich dem englischen Profi-Verband anzuschließen. Der beste Klub des Landes blieb man trotzdem, wie man in diversen Freundschaftsspielen unter Beweis stellte. Bis heute stammt etwa die höchste Niederlage Manchester Uniteds aus einem jener Spiele: 3:11 gegen Corinthian.
Als der Verein 1907 dem Amateurverband beitrat, durfte er nicht länger gegen Profiteams antreten. Stattdessen begann das Team, einmal um die Welt zu touren: Brasilien, Kanada, Schweden, Südafrika – Corinthian war eine globale Attraktion. Die Trikots von Real Madrid, schreibt die 11 Freunde, sollen Corinthian nachempfunden sein. Viele Topvereine orientierten sich am Stil der englischen „Amateure“. Selbst das Wort „Soccer“ soll von einem Spieler des Klubs erfunden worden sein.
Der wichtigste Fußabdruck, den die reisefreudigen Corinthians hinterließen, findet sich aber in Sao Paolo. Dort gründeten Arbeiter 1910 einen Fußballklub und nannten ihn in Bewunderung und Anerkennung: Sport Club Corinthians Paulista.
Über ein Jahrhundert später ist Corinthians ein Klub mit Weltruf. Siebenfacher brasilianischer Meister, Weltpokal- und Copa-Libertadores-Sieger. Große Karrieren nahmen bei den „Timão“ ihren Anfang, allen voran die von Landesidol Socrates. Längst hat der Verein seinen englischen Urvater, der nach einer Fusion mit einem anderen Amateurklub die Endung „Casuals“ erhielt, überholt. Doch die Dankbarkeit ist geblieben.
Wie groß diese Dankbarkeit ist? Als Corinthians-Fans 2014 entscheiden durften, gegen welchen Klub das neue Stadion eröffnet werden sollte, standen vier Optionen zur Wahl: Real Madrid, FC Barcelona, FC Chelsea oder Corinthian-Casuals. 61 Prozent stimmten für Corinthian.
So kam es, dass der englische Amateurklub im Januar 2015 vor über 30.000 Fans und Millionen Zuschauern im TV gegen einen der größten Vereine der Welt antrat. Die Underdogs verloren 0:3 – doch sie wurden gefeiert wie Helden.
Durch ihre besondere Gründungsgeschichte, ihren anfänglichen Einfluss und die Amateur-Philosophie sind die Corinthian-Casuals zum Inbegriff eines Kultvereins geworden: Sportlich absolut unbedeutend, aber dennoch relevant – obwohl selbst im Supermarkt um die Ecke kaum einer weiß, dass der Verein überhaupt existiert.
2) Fußball Kultvereine – Millwall FC
„No one likes us, we don’t care!“
So lautet einer der ikonischsten Fangesänge der Welt. Ikonisch genug für einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Geprägt wurde der Spruch von einem Verein, der vielen als Synonym für Hooliganismus und Fangewalt gilt: vom Millwall Football Club.
Barrie Stradling ist einer der bekanntesten Anhänger des Vereins, treu seit über 40 Jahren. In seinem Buch „Millwall for Life“ schrieb er neun Grundregeln nieder, die nach seiner Meinung für Fans des FC Millwall gelten. Regel Nummer 1 lautet: „Du musst akzeptieren, dass du ein Aussätziger bist. Der einzige Grund des gesellschaftlichen Untergangs und alleiniges Übel des Fußball. Entsprechend hasst man dich, wo immer du auftauchst.“
Dieses Image, das Bild des Krawallvereins, hat sich über Jahrzehnte in den Köpfen der Fußballfans weltweit eingeprägt. In jüngerer Vergangenheit scheint es sich allerdings zu wandeln. Aber eins nach dem anderen:
Millwall FC wurde 1885 gegründet und hat es seither kaum zu sportlicher Bedeutung gebracht: Die größte Errungenschaft aus bald 140 Jahren Klubgeschichte ist das einmalige Erreichen des FA-Cup-Finals im Jahr 2004. Abseits des Feldes dagegen, auf der Tribüne, mischte der FC Millwall ganz oben mit.
Als der Hooliganismus im Fußball seinen Anfang nahm, in den 1970er und 80er Jahren, stieß er in Millwall auf große Gegenliebe; die Fans des Vereins, größtenteils aus der Arbeiterklasse, machten sich unter den rivalisierenden Banden schnell einen Namen als besonders aggressive Gruppe. Die Spitze des Eisbergs: Ein FA-Cup-Spiel im März 1985, in dem es die Anhänger auf rekordverdächtige 31 Festnahmen und 47 Verletzte brachte.
Ausschreitungen dieser Art verpassten dem Stadion des FC Millwall den Spitznamen „Theatre of Screams“, in Anlehnung an Manchester Uniteds Heimstätte Old Trafford, die „Theater of Dreams“ gerufen wird.
Der breiten Öffentlichkeit begegnete das sportlich unbedeutende Millwall ausschließlich wegen seiner gewaltbereiten und teils rechtsextremen Hooligans. Mit jeder Schlägerei, jeder Anzeige, jedem Skandal festigte sich dadurch das Bild eines Vereins, der sinnbildlich steht für Gewalt und Rassismus im Fußball. Dabei war der Klub selbst Geisel seiner eigenen Fans: Viele durchaus lobenswerten Aspekte der Vereinsarbeit wurden von den Eskapaden der Hools schlicht verschluckt.
In der Gegenwart angekommen scheint sich diese Entwicklung umzukehren: Durch politische Einflüsse und harte Verbandsmaßnahmen konnte die Gewalt weitgehend aus Englands Stadien, auch aus Millwall, verbannt werden. Stattdessen fällt der Arbeiterklub neuerdings durch sein vielfältiges Engagement auf: Die „Lions“ gehören zu den größten Unterstützern der eigenen Kommune, sie wirtschaften solide und erhielten sogar Preise für ihre antirassistische Arbeit und die Familienfreundlichkeit des Vereins.
Unter Fußballromantikern gilt Millwall daher zunehmend als Beispiel für ehrliches, echtes Spiel. Weniger schön anzusehen, aber auch weniger steril. Symbolhaft dafür steht Millwalls Stadion, „The Don“: ein trister Betonbau, zwischen Schienen und Industrie-Silos, kein Vergleich zu den High-Tech-Arenen in Arsenal, Tottenham oder Chelsea.
Und die Fans? Die sind weniger gewaltbereit – aber nach wie vor rüde. „No one likes us, we don’t care“, ist einer von nur wenigen Fangesängen in Millwall, die ohne Kraftausdrücke und wüste Beschimpfungen auskommen. Auch das gehört zum Paket des Kultklubs, den der Spiegel 2018 wie folgt beschrieb: „Ein bisschen wie der FC St. Pauli. Und trotzdem ganz anders.“
3) Fußball Kultvereine – FC St. Pauli
Wollte man den Spirit des FC St. Pauli in einen einzigen Satz pressen, es gäbe wohl keine bessere Wahl als den Schriftzug auf der Nordtribüne des Millerntor-Stadions: Kein Mensch ist illegal, steht dort in fetten Lettern – und kaum ein Verein lebt diese Botschaft so aktiv wie der FC St. Pauli – der kultigste der deutschen Fußball Kultvereine
In den ersten Jahrzehnten seiner Existenz, von 1907 bis in die 1980er Jahre hinein, deutete wenig darauf hin, dass der Klub einmal Kult-Status genießen würde. Erst als sich in Hamburg die linke Szene zu einer nennenswerten Bewegung aufschwang, mit Hausbesetzungen, Demonstrationen und dem Streben nach Autonomie, wurde FC St. Pauli, ihr Verein, relevant. Der berühmte „Schwarze Block“ formte sich, schnell wurde er zum Gegenentwurf des damals gravierenden Hooligantums in Europa. „Doc Mabuse“, damals ein ganz normaler Alternativer, heute eine Vereinsikone, war der Legende nach der Erste, der im Stadion die Piratenflagge schwang. Heute ist sie das Symbol eines Vereins, der anders ist.
Der Kiezklub versteht sich im Gegensatz zu seiner Konkurrenz ausdrücklich als politisch; während der Großteil der Profi-Szene primär durch weichgespülte PR-Kampagnen auffällt, trägt St. Pauli seine soziale Verantwortung in der Vereins-DNA: Als erster deutscher Profiklub sanktionierte er sexistische und rassistische Äußerungen per Stadionordnung, mit Solidaritätsbekundungen etwa gegenüber Flüchtlingen, Kurden oder der LGBTQ-Szene zeigt er regelmäßig klare Haltung. Und wie man im Verein zur Legalisierung von Cannabis steht, lässt sich per Geruchstest an einem durchschnittlichen Spieltag im Millerntor hinreichend erörtern.
Die Gesamtausrichtung des FC St. Pauli, von politischen Statements über Graffiti-Wände im Stadion bis hin zu ironischen „Weltpokalsiegerbesieger“-Shirts, hat aus dem sportlich kaum relevanten Nordklub eine Marke, mehr noch, einen Mythos geschaffen. „St. Pauli ist ein Lebensstil“, heißt es in Hamburg. Und an diesem Lebensstil verdient der Verein gut: Überall auf der Welt kaufen Menschen Vereinsartikel des sportlich unbedeutenden Zweitligisten. Welchen ökonomischen Wert das Phänomen St. Pauli hat, zeigte sich insbesondere zu Beginn der 2000er Jahre: Als den Kiezkickern 2003 die Zwangsversetzung in die Oberliga drohte, schwamm sich St. Pauli mit „Retter“-Shirts, Kneipenaktionen („Saufen für St. Pauli“), Spendeneingängen und Kulturveranstaltungen im Millerntor-Stadion frei. Eine Strategie, die in Bochum, Bielefeld oder Cottbus keinen vergleichbaren Erfolg gehabt hätte.
Knapp zwei Jahrzehnte später ist die sportliche Lage deutlich entspannter: Das Team bewegt sich konstant auf Zweitliganiveau und die Merchandising-Maschinerie läuft flott. Sein politisches Profil hat der Klub derweil nicht abgelegt: Dass etwa die 50+1-Regel im deutschen Profi-Fußball weiter Bestand hat, ist zu großen Teilen ein Verdienst des FC St. Pauli, für den finanzieller Gewinn nicht die oberste Maxime – und Fußball manchmal nur Nebensache ist.
4) Fußball Kultvereine – Beitar Jerusalem
Was der FC St. Pauli im linken Spektrum ist, das ist Beitar Jerusalem im rechten. Der isrealische Profiklub gilt dank Teilen seiner Anhängerschaft als besonders radikal.
Der Klub wurde 1936 gegründet, als eine Art sportliches Organ der „Beitar“-Bewegung. Beitar ist eine zionistische Vereinigung, die einen starken jüdischen Nationalismus propagiert. Einige der stärksten konservativen Kräfte im Land gingen aus dieser Bewegung hervor, darunter die Likud-Partei – und eine berüchtigte Fanschar.
„La Familia“ heißt die Ultra-Gruppierung, die bei Beitar Jerusalem den Ton angibt. Einen sehr rauen Ton, um genau zu sein: So skandierten die Fans am nationalen Gedenktag des ehemaligen Ministerpräsidenten und Friedensnobelpreistägers Jitzchak Rabin jahrelang den Slogan „Jigal Amir, König von Israel!“ (Jigal Amir ist der jüdische Rechtsextremist, der Rabin ermordete.)
Als die Vereinsführung 2013 zwei muslimische Spieler verpflichten wollte, reagierte die „Familie“ extrem: Das Klub-Büro wurde angezündet, Spieler und Manager bedroht, derart, dass der Verein Personenschützer engagieren musste. Letztlich obsiegte der Terror: Beitar blieb der einzige israelische Profi-Verein ohne Araber oder Moslems – und führte damit eine 65 Jahre lange „Tradition“ fort.
Derlei rassistische Zwischenfälle ziehen sich durch Beitars Vereinsgeschichte und haben dafür gesorgt, dass die Israelis in rechten Fankreisen Kultstatus genießen. In der jüngeren Vergangenheit traten die gemäßigteren Fans daher den Rückzug an. Statt Seite an Seite mit rassistischen Ultras zu stehen, gründeten sie 2013 ihren eigenen Klub: Beitar Nordia.
5) Fußball Kultvereine – United of Manchester (United Ersatzklub)
Stichwort eigener Klub: Eine ähnliche Gründungsgeschichte erzählt auch ein Verein aus dem Mutterland des Fußballs, genauer gesagt aus Manchester. Der wichtige Unterschied: Es war dort keine politische Ideologie, die die Fans spaltete. Es war der Kommerz.
Ein Sprung ins Jahr 2005: Manchester United ist eines der stärksten Teams der Welt und beinahe selbst einer der Fußball Kultvereine. Unter der Führung von Sir Alex Ferguson vergeht kaum ein Jahr ohne Titel, und ein gewisser Cristiano Ronaldo entwickelt sich langsam zum Weltstar. Sportlich gesehen ist alles in bester Ordnung – doch trotzdem rumort es im Klub: Malcom Glazer, ein US-Geschäftsmann, hat im großen Stil United-Aktien aufgekauft. Er plant die Übernahme des Klubs.
Viele langjährige Anhänger protestieren laut. Für sie wäre der Führungswechsel gleichbedeutend mit der endgültigen (Durch-)Kommerzialisierung ihres Herzensvereins. Schon jetzt mahnen viele, der Klub verliere vor lauter TV-Millionen den Bezug. Unter dem Amerikaner Glazer, der bereits ein NFL-Team besitzt, würde diese Entwicklung vollendet. Obendrein fürchteten viele, der neue Besitzer würde seine Investitionskosten auf den (bis dato schuldenfreien) Verein umschulden und mit höheren Ticketpreisen refinanzieren.
Der Widerstand führt letztlich ins Nichts: Glazer sichert sich bis Mai 2005 schon 75% der Vereinsanteile, wodurch er United von der Börse nehmen kann. Einen Monat später gehören ihm 99%.
Zurück im Jetzt: Manchester United ist längst nicht mehr der Verein von einst, kein Ferguson, kein Ronaldo, keine Titel. Aber immer noch Glazer. Die Fans sollten Recht behalten: Die Kredite für die Übernahme, rund 900 Millionen Euro, überschrieb der neue Besitzer auf den Verein. Die Ticketpreise verdoppelten sich binnen der ersten vier Jahre. Bis heute ist der Name Glazer rund um Manchester verpönt – doch viele Fans haben längst aufgehört, sich innerhalb des Klubs zu beschweren. Stattdessen unterstützen sie ihr „eigenes“ United: United of Manchester.
Der Klub wurde unmittelbar nach der Glazer-Übernahme von frustrierten Fans gegründet, als krasser Gegenentwurf zu allem, was aus ihrer Sicht schiefgelaufen ist: Der Verein ist fangeführt und nicht profitorientiert. Es gibt keinen Trikotsponsor. Sein Mini-Stadion setzte der Klub mitten in das Problemviertel Moston; ohne VIP-Logen, dafür mit flexiblen Räumlichkeiten, die unter der Woche der Kommune zur Verfügung stehen. Wichtige Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen: One member, one vote.
Natürlich hat die United-Philosophie auch ihre Grenzen: Von sportlichem Erfolg etwa ist der Fußball Kultverein, aktuell Siebtligist, weit entfernt. Auch der Zauber eines aufstrebenden, jungen Klubs ist nach nunmehr 15 Jahren der Existenz verflogen. Der Zuschauerschnitt ist aktuell rückläufig.
Dennoch erhält der Klub Aufmerksamkeit – und er gewinnt immer mehr Nachahmer: Über ein Dutzend Vereine sind alleine in England dem Beispiel von United of Manchester gefolgt und bieten eine Heimat für Fußballromantiker und Fans, denen „ehrlicher“ Fußball wichtiger ist als schönes Spiel. Kultstatus: Check.
6) Fußball Kultvereine – New York Cosmos
Was haben Pelé, Franz Beckenbauer und Mick Jagger gemeinsam? Richtig: Sie saßen gemeinsam in derselben Umkleide. Mehr als einmal, der Legende nach. Locker sollen sie geplaudert haben und freundschaftlich verbunden gewesen sein: Der größte Rockstar seiner Zeit und zwei der größten Fußballer des 20. Jahrhunderts.
Natürlich ist es New York, die Stadt der Träume, die solche Verbindungen ermöglicht hat. Mitte der 1970er Jahre. Damals war Fußball in den USA nicht einmal eine Randnotiz. New York Cosmos, die Fußball-Franchise im Big Apple, sollte dies auf einen Schlag ändern: mit einem der größten Transfer-Coups in der Geschichte des Fußballs, der diesen Verein als einzigen amerikanischen Vertreter in die Klasse der Fußball Kultvereine brachte.
„Richte ihnen aus, dass sie verrückt sind!“, soll der beste Fußballer des 20. Jahrhunderts seinem Berater geantwortet haben, als Cosmos erstmals anklopfte. Er werde niemals für ein anderes Team als Santos, fügte er hinzu – Edson Arantes do Nascimento, besser bekannt unter seinem Künstlernamen: Pelé.
Hätte Clive Toye an dieser Stelle aufgegeben, New York Cosmos hätte auf dieser Liste nichts verloren – und auch sonst nicht im kollektiven Gedächtnis des Fußballs. Toye aber, der Manager des Franchise, hatte fast keine andere Wahl als weiterzumachen. Die NASL, Amerikas damalige Profi-Liga, war am Boden. Dem Guardian erzählte Toye, er hätte nur zwei Möglichkeiten zur Rettung gesehen: Eine Weltmeisterschaft – oder Pelé. „Er war der einzige Spieler, von dem im Land schonmal jemand gehört hatte.“
Also blieb Toye dran. Sao Paolo, Rom, Brüssel, der Manager jagte seinen Heilbsringer auf dem ganzen Globus. Er ließ sogar die Rückennummer 10 reservieren, bis Pelé sie tragen würde. Vier Jahre lang. Am 10. Juni 1975 war es soweit: Cosmos stellte Pelé als neuen Spieler vor. Und plötzlich war alles anders.
Auf einmal war Fußball in den Staaten „a thing“: New York Cosmos, das mit Warner Bros einen Medienmogul im Hintergrund hatte, machte aus Pelé eine Ikone des öffentlichen Lebens. Und als der Hype einmal entfacht war, fütterte die Franchise die Maschine mit weiteren Topstars – allen voran Franz Beckenbauer.
Mit seinen Toptransfers ist New York Cosmos ein einmaliges Kunststück gelungen: Zum ersten und bislang einzigen Mal wurde „Soccer“ zur Hauptattraktion des US-Sports. Der eingangs erwähnte Mick Jagger war mit seiner Bewunderung in illustrer Gesellschaft. Muhammad Ali, Barabara Streisand, Steven Spielberg – Berühmtheiten allererster Güte suchten die Nähe der Cosmos. So groß war ihr Star-Appeal!
Die restlichen Teambesitzer des Landes nahmen den Wind mit der Zeit auf: Ende der 1970er versorgte die NASL das gesamte Land mit frischen Stars: George Best, Giorgio Chinaglia, Carlos Alberto, Gerd Müller, Johan Cruyff. Sie alle spielten in den USA. Doch sie alle kosteten auch Geld.
Die NASL häufte in dieser Zeit enorme Schulden an. Wirklich amortisiert hat sich die Star-Jagd nie: Das Fußballinteresse der US-Öffentlichkeit ebbte ebenso so schnell ab, wie es aufgeflammt war – und keine zehn Jahre nach der Ankunft Pelés war der Sport wieder in der Versenkung verschwunden. 1984 löste sich die NASL mangels öffentlichen Interesses auf.
Ein Jahr später war auch New York Cosmos Geschichte. Und wie schon am Aufstieg war auch am Fall der Franchise ein Fußball-Weltstar beteiligt: Der Ex-Spieler Giorgio Chinaglia erwarb Anfang der 1980er Jahre die Cosmos-Anteile von Warner Bros – allerdings war er weit weniger liquide. Nach und nach verkaufte der Italiener seine Topstars, bis das Team dahingerafft war. Die Profi-Abteilung wurde 1985 aufgelöst.
Peppe Pinton, ein ehemaliger Vereinsmanager, sorgte immerhin dafür, dass die Cosmos-Fußballschulen geöffnet blieben – und er schützte als Inhaber die Namensrechte. Aus Angst vor einer respektlosen Ausweidung der Franchise-Historie lehnte Pinton diverse lukrative Offerten ab. Erst 2009 entschied er sich zum Verkauf, und, man ahnt es, auch an dieser großen Veränderung war ein Superstar beteiligt: Pelé höchstpersönlich soll Pinton überzeugt haben, die Namensrechte an eine britische Unternehmergruppe rund um Ex-Tottenham-Manager Paul Kemsley abzutreten. New York Cosmos war zurück.
Die Aura der alten Tage konnte die Franchise indes nicht wiederleben: Das Team spielt aktuell in der drittklassigen National Independent. Auch im Rest des Landes erreichte Soccer nie wieder den Glanz der späten 70er. Dass aber Fußball heutzutage überhaupt eine Rolle spielt im US-Sport, gehört zweifellos zum Vermächtnis von New York Cosmos: dem vielleicht schillerndsten Fußballteam der Geschichte.
7) Fußball Kultvereine – Galatasaray Istanbul
Es gibt Anhänger wie die des FC Liverpool, die mit „You’ll never walk alone“ einen weltweiten Stadion-Trend setzten. Es gibt kreative Fanszenen, etwa in Frankfurt, die regelmäßig mit bemerkenswerten Choreografien aufwarten. Es gibt viele Fußball Kultvereine, deren Fangemeinden einen besonderen Ruf genießen.
Und dann gibt es die Fans von Galatasaray Istanbul.
Die Turk Telekom Arena, das Wohnzimmer der Gala-Fans, wurde am 18. März 2018 zum offiziell lautesten Stadion der Welt. 131,76 Dezibel maßen Vertreter des Guinness-Rekordkomitees beim damaligen Stadtderby gegen Erzrivale Fenerbahce. Das ist in etwa die Lautstärke eines startenden Düsenjets. Als menschliche Schmerzgrenze gelten 120 Dezibel.
Die Gala-Arena steht daher ganz oben auf der Liste der Stadien, für die der Begriff „Hexenkessel“ mehr ist als eine abgedroschene Medienfloskel: Jahr für Jahr hört man Gäste-Profis nach Champions-League-Heimspielen in Istanbul mit einer Mischung aus Staunen und Bewunderung davon erzählen, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstehen konnten. Der Bundesligist Schalke 04 hatte vor der berüchtigten Gala-Atmosphäre sogar derart Respekt, dass er sie vor dem Champions-League-Gruppenduell im Oktober 2018 simulieren ließ: Über die Stadionlautsprecher wurden während einiger Trainingseinheiten Tonsequenzen aus der Turk Telekom Arena abgespielt.
Es ist aber nicht allein Lärm, der die Gala-Fans abhebt. Es ist die Leidenschaft an sich, die Euphorie, mit der die Anhänger ihrem Klub folgen. Besonders offensichtlich wird diese Inbrunst bei der Verpflichtung von Top-Stars: Die Neuzugänge werden oft schon am Flughafen frenetisch empfangen, teils von mehreren tausend Fans. Die anschließende Vorstellung im Stadion findet meist vor gigantischen Kulissen statt. Lukas Podolski, der zwischen 2015 und 2017 für die Löwen auflief, kann von dieser Ekstase ein Liedchen singen. Der aktuell letzte Akteur, der in den Genuss der Istanbuler Liebesbekundungen kam, ist Altstar Radamel Falcao: Über 40.000 Fans bejubelten den Kolumbianer im Herbst 2019 bei seiner Ankunft in der türkischen Metropole.
Das Geheimnis dieses Zaubers liegt im Kern: „ultrAslan“ heißt die Fangruppierung, die den Istanbuler Wahnsinn orchestriert. Unter ihrem Dach ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten eines der mächtigsten Ultra-Netzwerke gewachsen, die die Welt kennt. Die Mitglieder erstrecken sich über 60 Länder in fünf Kontinenten – und sie sind konsumkräftig: Merchandising-Artikel von ultrArslan haben sich in der Vergangenheit teils besser verkauft als die Fanware von Galatasaray selbst. Als der Klub Anfang der 2000er vor der Pleite stand, wurde ultrAslan deshalb zum Retter in der Not: Die Ultra-Bosse überließen die wertvolle Merchandise-Lizenz zeitweise dem Verein.
Wie so oft bei einem erfolgreich Modell hat auch der Ultra-Kult von Galatasaray mittlerweile Nachahmer gefunden – allen voran in der eigenen Stadt: Die Fans von Erzfeind Besiktas Istanbul etwa haben in den vergangenen Jahren ähnliche Strukturen aufgebaut wie Gala. Und im Mai 2013 pulverisierten sie 141 Dezibeln die Lautstärke-Bestmarke des Rivalen. Der Rekord ist somit Geschichte – doch der Mythos Galatasaray bleibt.
8) Fußball Kultvereine – Tasmania Berlin
Tasmania Berlin hat in über 100 Jahren Vereinsgeschichte exakt eine Saison erstklassig gespielt. Eine Saison. Mehr hat der Hauptstadt-Klub nicht gebraucht, um sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern: dank der schlechtesten Bundesliga-Saison aller Zeiten. Auch so schafft man sich einen Platz unter den Fußball Kultvereinen.
Die wenigsten Tore (15). Die meisten Gegentore (108). Die wenigsten Siege (2). Die meisten Niederlagen (28). Die höchste Heimniederlage (0:9). Die wenigsten Punkte (10). All diese Rekorde brach Tasmania in nur einer Saison. Und das ist nur ein Auszug.
Zur Ehrenrettung muss man dem Verein allerdings zu Gute halten, dass er in einer Situation landete, die kaum anders hätte enden können.
Zwei Jahre lang hatte sich Tasmania erfolglos um eine Teilnahme in der Bundesliga beworben. Der DFB lehnte ab, weil es schlicht an der nötigen Klasse mangelte.
Weil die Verbandsführung nach Hertha Zwangsabstieg 1965 unbedingt einen West-Berliner Verein an Bord haben wollte, wurde man weich: Aus Mangel an Alternativen erhielt Tasmania Berlin die Erstligalizenz. Und sogleich nahm das Unheil seinen Lauf.
Die Spieler wurden kurzerhand aus dem Urlaub zurückbeordert, teils per ADAC-Reiseruf. Für 50.000 D-Mark sicherte sich der Verein Horst Szymaniak, einen Spieler mit Star-Potential. Der Rest des Kaders hingegen war nicht bundesligatauglich.
Ebenso wenig die Infrastruktur: Kein Flutlicht, keine Stadionbewirtung, kein bespielbarer Rasen. Das Training des „Profi-Teams“ fand regelmäßig auf Schotterplätzen in der Umgebung statt.
Die Öffentlichkeit bekamen von diesen Zuständen zunächst wenig mit: Zum Saisonauftakt am 8. August 1965 erschienen 81.000 erwartungsfrohe Fans. Die Euphorie jedoch verflog so schnell, wie sie aufgeflammt war.
Gegen Borussia Mönchengladbach erschienen am 15. Januar 1966 nur noch 827 Zuschauer. Bis heute ein Negativrekord.
Sportlich war Tasmania schlicht nicht konkurrenzfähig. 400.000 D-Mark an Investitionen waren zu wenig. Immerhin: Die paar Fans, die bis zum bitteren Ende treu blieben, verloren den Humor nicht. Als die Berliner Schießbude am 30. April 1966 die Schallmauer von 100 Gegentoren brach, legten die Anhänger einen Trauerkranz hinter dem Tor von Stammkeeper Heinz Rohloff ab.
Wenig später endete das Intermezzo des Schreckens. Tasmania stieg als schlechtestes Team der Liga-Geschichte ab und fiel seither nicht weiter nennenswert auf: Nach einigen Jahren in der Regionalliga folgte 1973 die Insolvenz und anschließend die Auflösung des Vereins SC Tasmania 1900 Berlin. Informell existiert der Klub heute als SV Tasmania Berlin weiter und dümpelt in der Verbandsliga umher. Dass der Verein noch immer vielen Fans ein Begriff ist, liegt einzig am schlimmsten Jahr der Klubhistorie, das den Berlinern zu traurigem Ruhm verholfen hat. Seit über 50 Jahren steht der Verein sinnbildlich für Erfolglosigkeit und Negativrekord – und es dürfte noch lange so bleiben.
9) Fußball Kultvereine – Boca Juniors & River Plate
Es gibt im Weltfußball Feindschaften, die reichen so weit, dass Menschen verletzt und sogar getötet werden. Das heftigste Beispiel für solch eine erbitterte Rivalität findet man in Argentinien. Genauer: in Bueons Aires. Hier operieren zwei Fußball Kultvereine mit- bzw. gegeneinander.
Die Millionenmetropole ist die Heimat der zwei besten Klubs des Landes: den Boca Juniors und River Plate. 70 Prozent der argentinischen Bevölkerung sind Fans von einem der Vereine. Sympathien für beide hegt so gut wie niemand: Wer die Boca Juniors liebt, der hasst River Plate. Oder umgekehrt.
Die Feindschaft besteht mehr oder minder seit Tag eins: Beide Vereine wurden vor über 100 Jahren in dem italienisch geprägten Stadtteil „La Boca“ gegründet. Die ersten Reibungen zwischen den Klubs entstanden noch vor dem ersten Spiel. Es ging um die Vereinsfarben: Boca wählte Schwarz und Weiß, doch diese Kombination gehörte bereits River. Die Entscheidung wurde schließlich auf dem Fußballfeld ausgetragen – und Boca verlor. Der Klub beschloss anschließend, in den Nationalfarben desjenigen Schiffes aufzulaufen, dass als nächsten in den Hafen einlaufen sollte. Es war schwedisch – und so tragen die Boca Juniors bis heute gelb und blau.
Jener frühe Modestreit geriet über die Jahre in Vergessenheit. Die wahre Rivalität speist sich derweil aus einem Umzug: Während Boca bis heute im ärmlichen Süden der Stadt residiert, zog River Plate 1938 in den wohlhabenden Norden. Fortan standen die Namen Boca und River nicht mehr bloß für Fußball. Sie standen für verschiedene Klassen.
Die Boca Juniors sind die Heimat der Arbeiter und Geringverdiener. River Plate, das im Nobelviertel Nunez spielt, gilt als Club der Reichen und Privilegierten. Darüber, welchen Verein ein Argentinier unterstützt, entscheidet also nicht unbedingt die Willkür, sondern auch der soziale Rang.
Diese Unterscheidung zeigt sich auf vielfache Weise: Die Fans der Boca Juniors werden „Bosteros“ (Mistaufgabler) gerufen. River Plate wiederum, das seine Stars teilweise mit Gold einkaufte, trug lange den Spitznamen „Millionarios“. Boca setzt sportlich auf Leidenschaft und Kampf. River Plate bevorzugt hochwertige Technik und schönes Spiel. Boca hat international mehr erreicht (18 Titel, Platz 3 hinter Real Madrid und AC Mailand). River hingegen ist national erfolgreicher (36 Titel gegenüber 33).
Lediglich in einem Aspekt sind die Boca Juniors auf ewig konkurrenzlos: Sie haben Diego Maradona hervorgebracht.
Eigentlich sollte schon dieser Umstand für sich zum Kultstatus reichen. Doch denkt man an die Boca Juniors, so taucht der Name Maradona für gewöhnlich erst an zweiter Stelle auf. Auf Platz eins liegt der „Superclasico“.
Die Derby zwischen Boca und River ist weltweit berühmt wie berüchtigt: Die Stimmung gilt in beiden Stadien als einzigartig, elektrisierend. Der englische Observer setzte das Derby gar an die erste Stelle seiner Liste mit 50 Sportereignissen, die man im Leben gesehen haben sollte.
Trotz dieser Aussichten sollten sich Fußballfans einen Besuch des Superclasico gut überlegt haben. Er belastet erheblich den Geldbeutel (ca. 600 Euro) – und unter Umständen sogar die Gesundheit: Das Derby der Intimfeinde gilt als das gefährlichste der Welt.
Über 100 Todesopfer forderte das Superclasico laut Medienberichten bereits. Der Grund: Die Ultra-Szene der Vereine. Sie weist teils mafiöse Strukturen auf, pflegt beste Verbindungen zur organisierten Kriminalität – und ist schlicht sehr gewaltbereit ist: Mitte der 1990er Jahre etwa prangte an einer Mauer in Buenos Aires der Schriftzug „Empatamos“ („Wir haben ausgeglichen“). Er bezog sich auf den Mord an zwei River-Fans, die den 2:0-Erfolg ihres Klubs gefeiert hatten.
Auch in der jüngeren Vergangenheit war der Superclasico von heftigen Ausschreitungen begleitet: 2015 wurden River-Profis mit Tränengas angegriffen. 2018 musste das Derby abgesagt werden, nachdem ein wütender Mob den Boca-Teambus mit Steinen und anderen Wurgeschossen angriff. Als sich die Klubs im selben Jahr erstmals im Finale der Copa Libertadores gegenüberstehen sollten, waren die Sicherheitsbedenken derart groß, dass das Spiel nach Madrid verlegt wurde.
Die Boca Juniors und River Plate. Zwei Klubs, die vollkommen unterschiedlich sind und dennoch untrennbar vereint. Gemeinsam stehen sie für die erbittertste Rivalität im Weltfußball und einen Derby-Kult, der weit mehr verhandelt als Sieg und Niederlage.
10) Fußball Kultvereine – AS St. Etienne
Wer verstehen will, warum die AS St. Etienne Kultstatus genießt, der muss verstehen, warum der Verein 2014 ganze 20.000 Euro für zwei Pfosten und eine Querlatte bezahlte. Richtig gelesen: Zwanzigtausend Euro für ein Gestänge.
Ein Erklärungsversuch.
Die AS St. Etienne ist ein französischer Traditionsklub, gegründet 1919. Mit zehn Ligatiteln, der letzte 1981, ist der Klub Rekordmeister (Stand: 2020) der League 1. Am tiefsten hat sich allerdings ein Titel ins Gedächtnis gebrannt, den die Mannschaft nicht gewonnen hat: den Europapokal von 1976.
St. Etienne war damals das vielleicht aufregendste Teams des Kontinents: „Les Verts“ spielten spektakulären Fußball, angeführt von Technikwunder Domenique Rocheteau, abgesichert von Abwehrrecken wie Christian Lopez. Im ganzen Land fand die Mannschaft Anhänger, sodass sich nach dem Erreichen des Europapokal-Endspiels sogar der französische Präsident zu Wort meldete: „Danke, dass ihr Frankreich ins Finale geführt hab“, schrieb Valéry Giscard d’Estaing dem damaligen Bürgermeister von St. Etienne.
Der Gegner jenes Endspiels war ein etabliertes Schwergewicht: der FC Bayern München. St. Etienne galt als leichter Außenseiter, doch das Team spielte stark auf. Ein Sieg wäre möglich gewesen, mit ein wenig Glück – doch anstatt ins Tor trafen „Les Verts“ zwei Mal nur die Latte. Vom Querbalken, der damals noch eckig war, sprang der Ball zurück ins Spielfeld. Die Bayern machten es besser, erzielten ein Tor und gewannen 1:0. Auf Seiten der Verlierer waren der Schuldige schnell gefunden: Der eckigen Querbalken.
Über 40 Jahre ist diese tragische Pleite nun her, doch noch heute weiß so gut wie jeder in St. Etienne, was es mit den „Poteaux Carrés“, den eckigen Pfosten, auf sich hat. Sie sind zu einem Mythos geworden, der die Jahrzehnte überdauert und St. Etienne Sonderstatus verliehen hat.
Manch einer mag den Kult um ein verlorenes Spiel kaum nachvollziehen können, doch er steht typisch für die französische Mentalität: Das Land der Liebe hat einen Hang zur Dramatik, ein Faible für tragische Helden. St. Etiennes Europapokal-Geschichte stillt genau diesen Hunger, und so wurde der bittersüße Schmerz der Niederlage zu einem essentiellen Teil der Klub-DNA, so selbstverständlich wie die Vereinsfarben grün und weiß und das herzliche Auftreten der Fans.
Im Jahr 2013 erhielt die Europapokal-Saga dann neuen Schwung: Im Hampden Park in Glasgow, dem Schauplatz der einstigen Tragödie, landeten Fans aus St. Etienne einen Sensationsfund: Die eckigen Pfosten von 1976! In einem Geräteschuppen moderten sie vor sich hin, ohne dass sich jemand um sie geschert hätte.
Die Nachricht schwappte schnell nach St. Etienne über und versetzte einen ganzen Klub in Aufregung. Der Verein rief in Glasgow an, wo man absurde 20.000 Euro für das Gestänge verlangte. St. Etienne verhandelte nicht. St. Etienne zahlte. Seither können Fans „Les Poteaux Carrés“ im vereinseigenen Museum bewundern, wo sie ausgestellt werden wie ein heiliges Relikt. Der Stolz einer ganzen Stadt.
Paris hat die Mona Lisa. St. Etienne hat die Pfosten von 1976.
Quellen
Benjamin Hoffmann
Experte für Fußball
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